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Beitrag: Blog2_Post
AutorenbildSarah Weya

Stadt oder Land?

Aktualisiert: 3. Jan. 2023

Das Leben mit Tieren und ein wenig Menschen


Meine Tochter ist hauptsächlich auf dem Land aufgewachsen. Dieses Dorf hatte zwar kein Handynetz, dafür zwei Bahnhöfe, einen Volg und ein Restaurant. Das Haus, in dem wir wohnten, wurde verkauft und somit stand ich vor der Frage: «Stadt oder Land»?



Die Schule zu wechseln ist nicht gerade einfach für eine 10-jährige. Ich habe diese Frage also sehr ernst genommen. Ich entschied mich fürs Land, was im Nachhinein eine grosse Fehlentscheidung war.


In meinen jungen Jahren lebte ich in der Stadt Solothurn. Ich war nie zu Hause. Ich zahlte Miete für mein Schlafzimmer und für mein Atelier. Meine Zeit verbrachte ich hauptsächlich in Bistros oder in Bars. Der Kühlschrank war meistens leer und in der Küche wurde geraucht, diskutiert und getrunken. Ich liebte es am Samstag durch den Markt zu schlendern, ohne etwas zu kaufen. Ich war hauptsächlich mit einem alten Damenvelo unterwegs, obwohl ich ein Auto besass. Gearbeitet habe ich in Biel/Bienne. «Die Stadt des Grauens», sagt man in Solothurn. Kriminell und hässlich. Nur weil die Barocker meinen, sie hätten die Kultur erfunden, heisst das noch lange nicht, dass eine Uhrenstadt ihnen nicht das Wasser reichen kann. Aber ja, vielleicht ist Solothurn ja auch eher ein Dorf.


Ich zog mit meiner Tochter also aufs Land. Ich war betört von den Schafen, die direkt neben meinem Büro grasten. Kuhglocken und Pferdewiehern gehören seitdem zu meinem Alltag. Durch einen ausgiebigen Spaziergang mit dem Hund erkundigte ich erstmal mein neues Zuhause. Bunte, schön dekorierte Häuser mit Blumen und Hühnern. Dieses Dorf könnte sich bei einem Blackout von Eiern ernähren. Aber jetzt kommt der Clou. Die Dörfler würden die Eier selbst bis zum Erbrechen essen, bevor sie dir eines abgeben würden. Diese Beobachtung machte ich erst ein Jahr später. Neben unserer Wohnung hat es einen riesig grossen Kirschbaum. Als die Früchte reif waren und langsam zu Boden fielen, habe ich mich dermassen aufgeregt, dass ich die Stromleitung des Schafgeheges unterbrach. Der Bauer, den ich damals zum ersten Mal zu Gesicht bekam, tauchte 30 Minuten später auf. Von diesem Moment an sah ich ihn täglich, wie er seine Runden um den Baum machte. Er erntete keine Früchte, sondern er zeigte seine Präsenz als «Kirschbaum Security». Die Vögel waren glücklich und ich kaufte angewidert für 8 Franken im Dorfladen 500 Gramm Kirschen.


Es gibt hier im Dorf jährlich ein Waldfest. Die Euphorie ähnelt jeweils einer öffentlichen Hinrichtung. Der Pilgerweg in Richtung Wald hat mich überrascht. Eine grosse Menschenmenge im Eilschritt, mit dem einzigen Ziel, eine Sitzgelegenheit zu ergattern. Falls ein Auswärtiger ihren Platz wegnehmen würde, wäre mit den Dorfbewohnern nicht gut Kirschen essen. Nüchtern gingen sie rauf, betrunken kamen sie runter. Unsere Velos vor dem Haus waren alle weg am nächsten Tag. Da meine Tochter mit dem Velo ins nächste Dorf zur Schule muss, hat man uns aus Solidarität neue Fahrräder geschenkt. Stadtmenschen haben das getan, da sie nun alle E-Bikes fahren und die alten Drahtesel nicht mehr brauchen. An dieser Stelle sage ich noch mal danke und schicke auch einen Gruss ans kriminelle Biel/Bienne.


Meine Tochter ist mittlerweile 13 Jahre alt und befindet sich momentan in der Stadt Solothurn und verpufft ihre Gutscheine, die sie zu Weihnachten bekommen hat. Da sie vorgestern und gestern schon dort war, wollte ich es ihr heute verbieten. Doch dann erinnerte ich mich an «Stadt oder Land?» und ich bekam Mitleid und ich liess sie gehen.




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